[…] Hermann Stenner – 1891 in Bielefeld geboren, am 3. oder 4. Dezember 1914 im Ersten Weltkrieg gefallen an der Ostfront bei Ilow in Polen – hat in nur knapp fünf Studienjahren ein umfangreiches Werk mit fast dreihundert Gemälden, 1500 Zeichnungen und druckgrafischen Arbeiten hinterlassen. …
Es waren tragischerweise seine letzten Werke, die hervorstechen: Eines davon ist der Heilige Sebastian aus dem Jahr 1913/14. Stenner hat das Motiv zweimal gemalt; sein früherer Sebastian datiert aus dem Jahr 1911/12. In der kurzen Zeitspanne zwischen diesen zwei Versionen eines Themas hat Stenner eine Entwicklung durchlaufen, die mich veranlasst, den späten Sebastian hier als eine herausragende Arbeit im Werk dieses Künstlers vorzustellen.
„So wie alle diese Epochen, so schaffen wir, die wir nicht malen, um den reichen Leuten gefällige Bilder in die Salons hängen zu lassen, sondern die wir etwas schaffen wollen, an dem sich die Menschheit im Allgemeinen erbauen kann. Die Künstler sind diejenigen, die ihrer Zeit voraus sind und deswegen etwas schaffen, was die breite Menschheit erst in einigen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten versteht und schätzen lernt. Wenn es nicht so wäre, gäbe es bald keinen kulturellen Fortschritt mehr, keine Ideale, keine Ziele, kurz, das Leben wäre unwürdig, fad, und bald würde der Zusammenbruch des Volkes folgen.“ Stenner liefert diese, wie er es nennt, „kurze Erklärung unseres Kunstwillens“ in einem Brief vom 19. Juni 1914 an seinen Bruder Fritz.
So allgemein gültig und präzise der junge Maler die Rolle des Künstlertums als Avantgarde einer jeden Gesellschaft formuliert, so eindrucksvoll erläutert er zugleich den Geist der Zeit, in der er selbst sich als ehrgeiziger Nachwuchskünstler zu verorten versuchte: Es war der Übergang vom Impressionismus zum Expressionismus, eine Zeit der Emanzipation von Ziehvätern wie Max Liebermann hin zu einem Autonomiestreben ganzer Künstlergruppen wie der Brücke oder dem Blauen Reiter, deren Erbe bis heute nachhallt. Viele dieser Künstler hatten sich auch in der Neuen Secession Berlin zusammengeschlossen, die von 1910 bis 1914 wesentlich zur Entwicklung des Expressionismus beitrug. Sie war aus Protest gegen die Berliner Secession und ihren Ersten Vorsitzenden Liebermann gegründet worden und trat mit mehreren vielbeachteten Ausstellungen hervor. Die Neue Secession löste sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf, hatte sich aber in nur vier Jahren ihres Bestehens nicht nur zum einflussreichen Ausstellungsformat entwickelt, sondern wurde auch zu einem echten kunstpolitischen Faktor, dessen Bedeutung für den Expressionismus heute unbestritten ist.
Der heilige Sebastian, dem Hermann Stenner zwei Gemälde gewidmet hat, gehört zum Kanon der Kunst bereits seit dem fünften Jahrhundert. Der Überlieferung nach hatte sich Sebastian als Hauptmann am kaiserlichen Hof Diokletians öffentlich zum Christentum bekannt, woraufhin der Kaiser ihn zum Tod verurteilte und von Bogenschützen erschießen ließ. Der vermeintlich Getötete wurde von einer frommen Witwe, der heiligen Irene, gesundgepflegt. Nach seiner Genesung und seinem erneuten Bekenntnis zum christlichen Glauben wurde Sebastian erschlagen, in eine Kloake geworfen, schließlich aber in den Katakomben Roms beigesetzt.
Das Schicksal des Heiligen hat viele Künstler zur Auseinandersetzung mit diesem frühen Märtyrertum bewogen. Zu den Attributen gehören Pfeile, die seine Brust durchbohren. Typisch ist die Darstellung als Krieger; in deutschen Bildnissen seit der Gotik wird oft der von Wunden bedeckte, magere Körper hervorgehoben. Häufig wird die Szene der Beschießung selbst gezeigt, in der der Heilige meist an einen Baum gebunden ist. Seit der Renaissance wird Sebastian zunehmend als Ikone männlicher Schönheit aufgefasst, die nicht zuletzt wegen seiner Standhaftigkeit trotz der Folter mystisch verklärt wird.
Während Hermann Stenners Sebastian aus dem Jahr 1911 in dieser Analogie noch eine männliche Halbfigur mit detailliert ausgeführtem Oberkörper an einem Baumstamm zeigt, löst er sich in seiner späteren Version von dem für den norddeutschen Expressionismus typischen figurativ-konturierten Stil zum Beispiel der Brücke-Künstler. Stenner schafft mit seinem Heiligen Sebastian 1914 eine stark abstrahierte, sehr linear und farbig betonte Variante des Motivs: hier die ganze Szene der Beschießung Sebastians mit Pfeilen. Eine Bildauffassung, in der die Formensprache des Kubismus anklingt, setzt den Heiligen als aufrechte Figur in den Mittelpunkt des Bildes. Durch die helle Farbe des Körpers, die sich von den Rot- und Blautönen der Umgebung deutlich abhebt, entsteht die Assoziation des vertikalen Kreuzesbalkens, der linke Arm weist nach oben, die Fesselung wirkt zugleich wie ein Heilsversprechen in der Marter. Das blaue Lendentuch ist eine markante Verbindung zu den Schergen links und rechts des Heiligen in ihrer blauen Kleidung – der Mensch ist des Menschen Feind. Die rote Färbung der unmittelbaren Umgebung des Märtyrers illustriert das blutige Geschehen. Hier gewinnt die Farbe eine starke Dominanz gegenüber der sich gerade in der rechten Figur beinahe auflösenden Form.
Eine Bedeutung für das Geschehen hat primär die zentrale Figur des Sebastian. Die anderen sind fast körperlose Schemen, eingebunden in die farbige Fläche des Umfelds. Umso ergreifender wirkt der offensichtlich junge Leidende in der Hauptachse des Werks – ergreifend auch angesichts des Wissens um den frühen Tod des Malers selbst. Dieser „Sebastian“ jedenfalls ist mit seinen stilisierten Formen und suggestiv eingesetzten Farben viel expressiver und weniger realistisch als das frühere Bild. In der Verabsolutierung der Farbe und der Reduktion liegt gerade in diesem Werk ein klares Zeichen einer sich verändernden Bildauffassung des Künstlers und eine frühe Meisterschaft: eben das, was er im Brief an den Bruder Fritz als den neuen „Kunstwillen“ beschrieben hatte, der es verbot, „den reichen Leuten gefällige Bilder in die Salons zu hängen“.
Im Brief heißt es weiter: „Ich will Dir ja erklären, wie Du unsere Bilder aufzufassen hast. Die reine Farbe und die Linie sind Ausdrucksmittel, die unsere Vorgänger, die Impressionisten, vernachlässigten, die sie über ihr Naturnachahmen vergaßen. Wir bedienen uns ihrer wieder als Ausdrucksmittel. Eine blaue Figur vor einem dunkelroten Hintergrund ruft in uns ein anderes Gefühl hervor, als wenn dieselbe Figur zum Beispiel gelb wär. Wir arbeiten also mit psychologischen Wirkungen.“
Hermann Stenner hat immer wieder biblische Themen verarbeitet, so auch 1914 eine beeindruckende „Auferstehung“ geschaffen, nicht zuletzt initiiert durch Vorgaben seines Lehrers Adolf Hölzel. Jutta Hülsewig Johnen, die zusammen mit Christiane Reipschläger Stenners Werkverzeichnis der Gemälde erstellt hat, sieht eine weitere Erklärung für das Auftreten der religiösen Bilder auch in der „Möglichkeit, sich den Ideen Kandinskys zum künstlerischen Ausdruck einer ,Geistigen Welt‘ . . . auf ,gesichertem‘ Weg anzunähern. Auf den Spuren Kandinskys vollzieht Stenner auf diesem Wege die Auseinandersetzung mit dem ,Neuen Bild‘, das sich von den Formvorgaben der materiellen Welt löst und einem geistigen Gehalt Ausdruck zu verleihen sucht, auf dem Boden der eigenen kulturellen Tradition.“
Hermann Stenner gehört unzweifelhaft zu den großen Talenten in der Kunstwelt des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, zu einer Epoche, die bis heute geradezu emblematisch die deutsche Kunstgeschichte prägt. In nur wenigen Jahren hat sich in seiner Arbeit die Entwicklung vom Impressionismus über expressionistische Muster bis hin zu einem schon unerhört modern abstrahierenden Bildtypus verdichtet. Die Zugehörigkeit zu einschlägigen Künstlergruppierungen steht auf der einen, sein sehr individueller Stil und seine Autonomie stehen auf der anderen Seite.
Und doch bleibt die Frage, was von Stenner geblieben wäre ohne sein schmales Spätwerk, mit dem er 1914 das Avantgarde-Versprechen eines Künstlertums einlöste, das er in seinem eigenen Credo im Brief an seinen Bruder formulierte. Gerade mit seinen späten Werken zu christlichen Themen hat der damals Dreiundzwanzigjährige einem neuen bildlichen Ausdruck gehuldigt. Er hat nicht nur auf die „psychologische Wirkung“ gesetzt, sondern in der zunehmend abstrakten Gestaltung eine Annäherung an die Transzendenz versucht. Sein früher Tod wirkt umso tragischer.
Von Monika Grütters, Frankfurter Allgemeine Zeitung